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Jugendrevolten

Artikel von Heiner Koechlin aus der Akratie Nr. 15 – Sommer 1981.

An den Jugendrevolten unserer Tage wird viel herumgerätselt. Warum nehmen sie ausgerechnet in den Ländern ihren Ausgang, welche die kleinsten Arbeitslosenzahlen und die höchsten Löhne aufweisen?

Die Versuche extremistischer politischer Gruppierungen marxistischer oder anarchistischer Färbung, diese Bewegung auf ihre ideologischen Mühlen zu lenken und politisch in den Griff zu bekommen, sind ebenso vergeblich wie die Versuche der Fanatiker der Ordnung, sie mittels Tränengas und Gummigeschossen zu erledigen. Jahrzehntelang Aufgestautes tobt sich aus bei ordnungsfanatischen Kleinbürgern nicht weniger als bei ordnungshassenden Jugendlichen. Wohlmeinende Pfarrer, aufgeschlossene Psychologen und besorgte Eltern sehen sich einem bedenkenlosen Radikalismus gegenüber, der ihre wohlmeinende Absichten verachtet.

Nebenher spielen Forderungen eine Rolle, die auch von anderen Bewegungen erhoben werden: Opposition gegen Militarismus, gegen Atomkraftwerke, gegen Zerstörung von billigen Wohnungen u.a. Das eigentliche, zentrale Anliegen dieser Jugendlichen ist mit diesen Forderungen nicht erschöpft.

Charakteristisch ist, dass sich diese Bewegung ausdrücklich und ausschliesslich als Jugendbewegung versteht. Andere rebellische und revolutionäre Bewegungen, wie die “Neue Linke” der 60er Jahre, verfolgten, auch wenn sie zu 90% aus Jugendlichen bestanden, Ziele, die sich auf alle Lebensalter erstreckten. Die heutigen pochen auf ihre Jugend und schränken ihre Forderungen auf wirkliche oder vermeintliche Interessen ihres Lebensalters ein. Sie gleichen darin den Feministinnen, die ihre Aktivitäten auf wirkliche oder vermeintliche Interessen ihres Geschlechts einschränken. Mit dieser Ausschliesslichkeit schneiden sie sich viele Möglichkeiten von vorneherein ab.

Ein anderes Charakteristikum ist die Kulturfeindlichkeit dieser Bewegung. Unter den Anarchisten von gestern gab es solche, die mit Gewalt Regierungspaläste oder Banken angriffen. Kultur aber war für alle ein Tabu. Zerstörung von Kunstwerken, Störung von Theatervorstellungen u.a. wäre undenkbar gewesen. Die Jugendrevolte in Zürich dagegen wurde mit einem Angriff auf das Opernhaus ausgelöst.

Der grösste Prozentsatz der Revoltierenden stammt aus bürgerlichen Familien. Ihre Aktion richtet sich gegen bürgerliche Lebensform und Lebensweise. Doch wird dies nicht im Sinne der überlieferten Klassenkampftheorie verstanden. Weit weg sind diese Jugendlichen von der Vorstellung, ein Proletariat werde das Bürgertum entmachten und in der Herrschaft ablösen. Ihre zur Schau getragene Antibürgerlichkeit erregt Anstoss nicht zuletzt bei einer Arbeiterschaft, die in Folge ihrer wirtschaftlichen Besserstellung bürgerliche Lebensformen und -anschauungen angenommen hat.

Von Sozialismus ist wenig die Rede. Diese einst schöne Ideal setzt sich, nachdem es in verschiedenen Formen zu unschöner oder unbefriedigender Wirklichkeit geworden ist, dem Verdachte aus, seine Realisierung müsse zu einer neuen bürgerlichen Klasse oder aber einer klassenlosen bürgerlichen Gesellschaft führen.

Dieser Antibürgerlichkeit ist ein fast metaphysischer, absoluter Charakterzug eigen, der sich mit keiner Idee von einer neuen Wirtschaftsordnung begnügt. Bürgerliche Lebensauffassung und Lebensweise ist der Inbegriff eines unechten, geistlosen Materialismus. Doch lebt diese Revolte bis heute fast ausschliesslich von der Negation, und nach tragenden positiven Ideen sucht man vergeblich.

Schon im Jahre 1931 schrieb Karl Jaspers folgenden Worte: “… wenn aber ausschliesslich nichts mehr in der wirklich mich umgebenden Welt von mir hervorgebracht, geformt, überliefert würde, sondern alles nur als augenblickliche Bedürfnisbefriedigung hinzunehmen wäre, nur verbraucht und ausgewechselt würde, das Wohnen selber sich maschinell gestaltet, kein Geist der eigenen Umwelt mehr bliebe, die Arbeit nur als Leistung für den Tag gälte und sich nichts aufbaute zu einem Leben, so würde der Mensch gleichsam weltlos. Losgelöst von seinem Grunde, ohne bewusste Geschichte, ohne Kontinuität seines Daseins kann der Mensch nicht Mensch bleiben. Die universale Daseinsordnung höbe das Dasein des wirklichen Menschen, der er selbst in seiner Welt ist, zu einer blossen Funktion auf.

Jedoch geht der Mensch als einzelner nie ganz in eine Daseinsordnung ein, welche ihm sein Sein nur als Funktion für den Bestand des ganzen liesse. Zwar kann er im Apparat durch tausend Beziehungen, in denen er abhängig ist und mitwirkt, leben. Da er aber dort in seiner Vertretbarkeit ebenso gleichgültig ist, als ob er nicht wäre, revoltiert er, wenn er in keinem Sinn mehr er selbst sein kann … ” (Karl Jaspers: Die geistige Situation der Zeit.)

In dieser Richtung, so scheint mir, müssen Jugendrevolten von heute interpretiert werden.

Als Jaspers diese Sätze schrieb, war das Problem noch fast unsichtbar, überdeckt von Wirtschaftskrise, materiellem Massenelend und auf diese Dinge bezogene ideologische Auseinandersetzungen. Es tritt erst heute voll ans Tageslicht und deutlich nur in Ländern, die keine brennenden wirtschaftlichen und politischen Notlagen kennen.

“Versorgungsgesellschaft” nannte der Philosoph jene hochtechnisierten Apparat, den für “augenblickliche Bedürfnisbefriedigung” zu sorgen hat. Der Preis, den der Mensch für diese bezahlt, ist seine Reduktion auf eine Funktion im Inneren des Apparates.

Das Gleichheitsideal der Demokratie und es Sozialismus, das Menschenrecht und die Menschenwürde für all beinhaltet, wird verfälscht im Sinne einer geistigen Nivellierung, die in ihrer Konsequenz alle ihres Menschseins beraubt. Zum Menschsein gehört Eigenheit, eigene Umwelt, schöpferische Tätigkeit. Diese Dinge liegen so sehr in der Natur des Menschen, dass sie ihm nie ganz genommen werden können. Doch können sie auf ein Minimum reduziert werden.

Nicht nur materiell, sondern auch geistig versorgt der menschenfeindliche Apparat die Menschen. Kapitalistische und kommunistische Regierungen wissen, dass man mit Analphabeten keine Arbeitsdisziplin erzielen und keine Fabriken in Gang halten kann.

Gross ist der Aufwand an Wissenschaft, insbesondere “psychologischer”, mit deren Hilfe die Menschheit in das Prokrustesbett allgemeiner Mittelmässigkeit gezwängt werden soll. Die fortschreitende Entpersonalisierung hat zur Folge, dass philosophisches Denken, literarischer und künstlerischer Ausdruck einen Tiefpunkt erreicht haben. Als Ersatz wird ein Kulturbetrieb geboten, gegen den sich diese Jugend empört, wobei sie ähnlich den Bilderstürmern der Reformationszeit für überlieferte Werte blind ist.

Lebt man in Zentraleuropa, so täuscht man sich leicht darüber hinweg, dass nur ein kleiner Teil der Menschheit von den Sorgen bewegt wird, welche hier die Jugendlichen auf die Strasse treiben. Dem weit grössten Teil, der, wenn nicht an Hunger, so doch unter wirtschaftlichem Mangel leidet, muss eine Gesellschaft, welche die “augenblicklichen Bedürfnisse” befriedigt, als lochendes Paradies erscheinen.

Es ist wenig wahrscheinlich, dass die unterentwickelten Völker zur Behebung der materiellen Notlage einen anderen Weg gehen werden als den unseren.

Erst dann, wenn die elementaren materiellen Bedürfnisse befriedigt sind, beginnt die Auseinandersetzung, von der uns die Jugendrevolten unserer Tage einen Vorgeschmack geben.

Handelt es sich um einen auswegsloses Sichaufbäumen gegen ein Schicksal oder ist es möglich, dieses abzuwenden? Darauf soll nur allgemein und abstrakt geantwortet werden. Die Entwicklung der Technik rückgängig zu machen ist nicht nur unmöglich, sondern wäre auch nicht wünschenswert. Ein solcher Rückschritt würde wieder zu Hunger und krasser sozialer Ungleichheit führen, wie sie in den unter- und halbentwickelten Ländern bestehen. Notwendig ist aber, das Verhältnis zwischen Mensch und Technik umzukehren, d.h. zu erreichen, dass nicht mehr Technik den Menschen, sondern der Mensch die Technik dirigiert. Eine einseitige Ausbildung des praktischen und wissenschaftlichen Sachverstandes hat den Menschen in diese Abhängigkeit geführt. Die Geister, die er rief, wurde er nicht mehr los. Überwinden kann er diese Einseitigkeit nur durch Entfaltung seiner Gesamtpersönlichkeit, von der der praktische und wissenschaftliche Sachverstand nur ein untergeordneter Teil sein darf.

Nur damit kann er sich zur Schaffung einer Umwelt befähigen, in der die Technik wirklich nur ein dienendes Glied sein wird. Nur die schöpferische Persönlichkeit kann der Entpersönlichung wirksam entgegentreten.

Nur kulturelle Neuschöpfung kann einen geistlosen Kulturbetrieb überwinden.

Die Schwäche der Jugendrevolte besteht darin, dass deren Träger selbst Produkte der Versorgungsgesellschaft sind, gegen die sie revoltieren. Zu geistiger Passivität erzogen, beschränken sie sich darauf, Forderungen an eine Gesellschaft zu stellen, die diese auch bei gutem Willen nicht erfüllen könnte.

Krawall ist eine wahrscheinliche unvermeidbare Begleiterscheinung jeder Veränderung. Aber allein führt er zu nichts. Die Forderungen der rebellischen Jugendlichen sind ausnahmslos berechtigt. Doch geht es hier um Dinge, die von niemandem gefordert, sondern nur aus eigener Produktivität erlangt werden können. Wenn das Wort “Autonomie” nicht als leeres Schlagwort verwendet wird, so kann es nur dies meinen.

Posted in Akratie (Zeitschrift), Heiner Koechlin.